Ein Telefonat bringt alles ins Rollen. Alfons Essing greift zum Hörer und ruft an. Es ist Frühjahr 2020, während der Corona-Pandemie. „Mein Bruder braucht mal Abwechslung. Darf er für ein paar Tage zu uns nach Hause kommen?“ Alfons Essing unterhält sich mit der neuen Einrichtungsleitung Heike Schulz, die dem Eva-von Tiele-Winckler-Haus in Nordwalde vorsteht. In ihm reift eine Idee: er will sich auch für die anderen Menschen mit Behinderung im Wohnhaus engagieren.
Andreas Essing, sein Bruder, lebt seit einigen Jahren dort. Die Zeit war reif, dass er nicht mehr bei der Mutter wohnt und von dort zu seiner Arbeit in die Werkstatt geht. Nun lebt er selbstständiger in einer lebhaften Wohngemeinschaft und fühlt sich pudelwohl. Als seine Mutter stirbt, ist Andreas Essing im Eva-von-Tiele-Winckler-Haus bereits gut angekommen und nennt es sein Zuhause.
Alfons Essing bietet Heike Schulz sein Engagement an, zumal er jetzt in der passiven Phase seiner Altersteilzeit ist. Er will nicht einrosten. Er will sich bewegen. Für den ehemaligen Chemiker von Thyssen-Krupp ist das absolutes Neuland. Labore und wissenschaftliche Besprechungen waren sein Terrain. Aber im Ruhestand darf Neues kommen!
Er entscheidet sich für den Freitagmittag, wenn nämlich nach der Arbeit, nach Mittagspause und Kaffee, die Bewohner*innen des Eva-von-Tiele-Winckler-Hauses gerne Einkaufen gehen. Dabei braucht es Hilfe, braucht es Ehrenamt.
Bollerwagen aus dem Schuppen geholt und los. Langsam. Und auch, wenn man mit dem Auto zum Einkaufen fährt: es dauert seine Zeit. Pfandflaschen der letzten Woche einsammeln, Ausdiskutieren, wer vorne sitzt, Anschnallen, im Geschäft schauen und viele Entscheidungen fällen. Eine Liste von Spezialwünschen von anderen Bewohner*innen hat die Einkaufsgruppe auch dabei.
Das Freitags-Einkaufen ist ein Highlight! Hier werden Wünsche wahr: „Mal Chips, mal ein Bierchen, Kosmetika. Und der Ingo,“ berichtet Ehrenamtler Essing, „… der kauft sich jeden Freitag ein Auto! Matchbox-Autos sind seine wahre Sammelleidenschaft!“
Jeden Freitag fährt Alfons Essing von Werne, wo der Ruheständler mit seiner Frau lebt, nach Nordwalde. 60 km eine Strecke – das sind 40 Minuten.
Er überlegt, dass es sich noch mehr lohnen soll, diese Strecke zu fahren und spricht mit Heike Schulz. Er möchte mehr Zeit investieren. So ergibt es sich, dass Alfons Essing nun schon morgens losfährt und am Vormittag zwei Hauptamtlichen bei der Tagesgruppe hilft. Dort besteht für gut zehn Bewohner*innen, die im Ruhestand sind, die Möglichkeit, gemeinsam den Tag zu gestalten. Spaziergänge bzw. Spazierfahrten, ein kleines Programm, miteinander Mittagessen. Dorthin kommen dann immer einige der zehn, ganz wie sie es an dem Tag mögen.
Alfons Essing kennt sie alle, erlebt auf diese Weise den Alltag von Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung eingeschränkter leben. Er spricht von ihnen wie von Freunden. Er spricht von wertvoller Zeit, auch wenn er freitags abends wirklich k.o. nach Hause kommt. Er spricht so, dass seine Freude über dieses Engagement rüberkommt.
Er sagt mir: „Es ist schön, wie viele Signale der Dankbarkeit ich bekomme.“
Ich frage: „Und, was sagt Ihr Bruder zu Ihrem Engagement?“
Antwort: „Andreas ist stolz, dass ich komme.“
Danke für Ihr Engagement, #ehrenmensch Alfons Essing!